Warum Brenda nicht mehr in der Hartz-IV-Statistik auftaucht oder: die elegante Entsorgung eines Problemfalls
Brenda (Name geändert; Anm. BG45) ist 18 Jahre alt und hat keinen Job.
Ihre Geschichte
Sie wurde als Schulkind als entwicklungsverzögert eingestuft. Ihre Mutter konnte verhindern, dass die Kleine in eine Sonderschule abgeschoben wird. Sie absolvierte die Grundschule, wechselte in die Hauptschule. Allerdings: es wurde früh deutlich, dass Brenda Konzentrationsschwierigkeiten hat oder anders gesagt: sobald sie sich langweilte, wandte sie sich anderen Dingen zu. Andererseits hat sie eine große Fähigkeit, die Dinge um sich herum wahrzunehmen.
Sie beobachtet andere Menschen und betrachtet ihre Umgebung, nimmt Details wahr, die andere nicht bemerken – z.B. den ungewöhnlichen Gang eines Lehrers, dass der Postbote von TNT ein neues Fahrrad hat, dass die Nachbarskatze ein Vogelnest im Baum gegenüber fixiert. Im Laufe ihrer schulischen Ausbildung lernt Brenda, dass ihre Konzentrationsprobleme von enormer Bedeutung sind, ihre Beobachtungsgabe jedoch völlig belanglos. Brenda kommt zu dem Schluss, dass sie so eine Art wandelndes Defizit ist – einfach zu blöd für das richtige Leben. Nach Bestätigung dafür muss sie nicht suchen: sie findet keinen Praktikumsplatz als Floristin (was ihr Traumjob wäre), sondern landet in einer Maßnahme, in der sie Lagerarbeiterin werden könnte. Es gelingt ihr, das gut zu finden. In der Schule erfährt sie von verantwortlichen Pädagogen, dass „sie sich auf ihr Praktikum im Lager einer Übungsfirma mal nichts einbilden soll, genau wie alle anderen Mitschüler könne sie froh sein, wenn sie irgendwann mal bei Primark die Klamotten aufräumen dürfe“.
Als die Schulausbildung für Brenda zu Ende ist – sie hat ein Zeugnis bekommen, ganz gut abgeschnitten, liegt im oberen Drittel der Klasse, ist Lernen für sie erledigt. Sie geht nicht zur Abschlussfeier – die letzten Jahre waren keine guten Jahre. Sie hat keine Chance bekommen, und daran wird sich auch nichts ändern.
Brenda verlagert ihren Lebensmittelpunkt auf das Sofa vor dem TV-Gerät, wird zur Stammkundin bei Talkshows bei RTL II und erfährt dort immerhin, dass es noch übler zugehen kann als in ihrem Leben. Aufstehen mittags gegen 12.00, Schminken, gegen 15.00 Uhr den Freund treffen, der unter ähnlichen Bedingungen lebt, nur dass dazu kommt, das seine Mutter alkoholkrank ist und ihren Sohn manchmal einlädt, doch einen Schluck mit ihr zu trinken.
Doch so ganz will Brenda nicht aufgeben. Sie kämpft um eine neue Fördermaßnahme. Und bekommt sie. Dort wird sie zum ersten Mal mit Gewalt konfrontiert und selbst mit einem Messer bedroht. Die städtische Fördereinrichtung reagiert auf Anfragen der Mutter mit dem Hinweis, „Brenda sei völlig überspannt, und Jugendliche seien halt manchmal etwas robuster im Umgang miteinander, das dürfe man nicht zu ernst nehmen“. Das Mädchen hat Angst, weiter an der Maßnahme teilzunehmen und spricht beim Amt vor. Dort bekommt sie einen neuen Platz für ein Praktikum in einem Laden der EABG. Sie kommt dort nicht zurecht, denn niemand erklärt ihr, was sie machen soll und wie der Laden insgesamt funktioniert, sie steht rum und fühlt sich nur noch mies und überflüssig. Der Eindruck, dass Brenda einfach blöd ist, verstärkt sich offenbar für das Amt und viel schlimmer: für Brenda selbst.
Brenda tut das, was ihr schon einmal die Angst vor dem Leben so ein bisschen vertreiben konnte: Rückzug aufs Sofa, ab vor den Fernseher.
Das Jobcenter kommt zu dem Schluss, dass mit der jungen Frau etwas nicht stimmt und der Weisheit letzter Schluss: Brenda soll zum Psychiater gehen, der soll begutachten, was mit ihr los ist.
Und endlich: nach 45 Minuten hat der Mann Klarheit über Brenda! Die Ärmste leidet unter Depressionen und denen kann man doch mit Medikamenten auf den Pelz rücken! Also gibt’s eine Krankschreibung und ein Rezept über Trimipramin. Die Tagesdosis kann langsam bis auf 150 mg gesteigert werden. Danach werden sich die Bedingungen für Brenda nicht verändert haben – aber immerhin, es wird ihr scheißegal sein!
Brendas Geschichte ist kein unglaublicher Vorfall, sondern alltäglich
Die Geschichte von Brenda ist noch viel länger und die Kämpfe, die ihre Mutter mit dem Jobcenter auszufechten hatte und hat, füllen Aktenordner. Klar ist bislang: eine junge Frau, die schlechte Ausgangsbedingungen hatte, wird diesen Kreislauf aus Neuanfang und prompt folgender Frustration nicht mehr lange aushalten. Sie ist auf dem Weg ins soziale Aus und wird dabei von Amts wegen unterstützt. Und genau das macht ihre Geschichte zu mehr als einem bedauerlichen Einzelschicksal.
In wie vielen Akten mag der Vermerk stehen „Vorsicht! Querulant! Mal zum Amtsarzt schicken!“
Wir überlegen, zu diesem Thema eine Veranstaltung durchzuführen. Dazu würden wir bereits jetzt gerne von Euren Erfahrungen in dieser Richtung profitieren, damit wir die richtigen ExpertInnen zum Thema an Bord holen können und die richtigen Fragen auch richtig beantworten und über geeignete Maßnahmen gemeinsam nachdenken können. Denn: wir sind Hartz-IV-Berechtigte und keine Fälle für die Psychiatrie…!
Menschen die nicht in die „Norm“ zu passen scheinen, werden schnell in die Ecke gestellt. Etwas genauer hinsehen oder sich einfühlen, bei dem betreffenden Menschen, kostet Zeit und benötigt Empathie. An beiden mangelt es in den JobCentern. Und das muss nicht immer alleine an den Sachbearbeitern liegen.
Das liegt am System. Schon in den Schulen bleiben die auf der Strecke, die etwas mehr Aufmerksamkeit benötigen. Individualität ist eben nur soweit akzeptabel, wie sie zur gegenwärtigen „Norm“ passt.