Zwangsumzug „völlig widersinnig“

Der Zwangsumzug ist ein Werkzeug der Jobcenter um Kosten zu sparen. Oder doch nicht?

Das Sozialgericht Duisburg (SG) hat in seinem Urteil vom 10.06.11 (AZ: S 6 AS 3419/10)  scharfe Kritik an der Praxis des Essener Jobcenters geübt, die Betroffenen nur aufgrund der Grundmiete (Netto-Kaltmiete) zu Umzügen zu zwingen. Im zu entscheidenden Fall hatten die Kläger eine Wohnung deren Grundmiete monatlich 44 Euro über der Angemessenheitsgrenze lag. Die warmen Nebenkosten lagen aber 39 Euro unter dem Satz für angemessene kalte (!) Nebenkosten. Dennoch forderte das Jobcenter die Kläger auf, sich eine „angemessene Wohnung“ mit einer niedrigeren Grundmiete zu suchen. Wären die Kläger dieser Aufforderung klaglos nachgekommen und hätten sich eine Wohnung mit angemessener Grundmiete und angemessenen Nebenkosten und Heizkosten gesucht, wäre die neue Gesamtmiete höher gewesen als die alte. Dieses Ergebnis bezeichnet das SG zu recht als „völlig widersinnig“. 

Der indirekte Zwang zum Umzug über die Absenkung der Mietkosten, die das Jobcenter zahlt, ist dem SG zu Folge ein Eingriff in das Grundrecht auf Unverletzlichkeit der Wohnung, der bei dieser Sachlage nicht zu rechtfertigen sei. Das SG geht seit dem 01.01.10 von 65 qm Wohnfläche aus, die einem Zwei-Personen-Haushalt von Leistungsberechtigten nach dem SGB II zustünden. Für Essen bedeute das bei einem qm-Preis von 4,71 Euro eine angemessene Grundmiete von 306,15 Euro. Als kalte Nebenkosten seien 1,89 Euro pro qm angemessen, wie aus dem Nebenkostenspiegel von 2010 hervorginge.

Die 6. Kammer des SG hat sich damit der neueren Rechtsprechung anderer Kammern angenähert, die auch die kalten Nebenkosten bei der Angemessenheitsberechnung mit einbeziehen. Auch wenn es sich um eine Einzelfallentscheidung handelt, so kann doch die Prüfung der Angemessenheit in Essen zukünftig nicht dabei stehen bleiben, die Grundmiete als zu hoch zu bewerten. In einem zweiten Schritt muss sodann ein Vergleich der tatsächlichen kalten Nebenkosten mit den angemessenen Nebenkosten (1,89 Euro pro qm) angestellt werden. Wenn die Nebenkosten deutlich unter diesem Durchschnitt liegen, ist eine Überschreitung bei der Grundmiete dadurch auszugleichen.

Rechtsanwalt Jan Häußler
Fachanwalt für Sozialrecht

Tagged .Speichere in deinen Favoriten diesen permalink.

3 Antworten zu Zwangsumzug „völlig widersinnig“

  1. Dan sagt:

    Vielen Dank, Herr Häußler.

    Mir gefiel ganz besonders die Formulierung des Gerichts. Ein toller Richter, der nicht in gequältem Juristendeutsch ein Urteil spricht, sondern eine verständliche und eindeutige Sprache, die jedermann verstehen kann. Aus seinen Worten kann man spüren, wie sauer er auf den Essener Amtsleiter ist, der für die Entscheidung seiner Behörde verantwortlich ist.

    Leider wird aber das JC aller Voraussicht nach den üblichen Weg der Berufung und der Revision gehen. Nicht weil das JC denkt, es könne in höherer Instanz gewinnen. Man möchte etwas Zeit gewinnen.
    Ich freue mich, daß die Grundsatzfrage (B 4 AS 109/11 R) nun beim BSG ist. Ich hoffe, daß wir ein höchstrichterliches Urteil in bezug auf die Quadratmeterzahlt schon Anfang 2012 bekommen werden. Und dann, ja, und dann kann die Stadt wirklich nichts mehr machen, außer zu zahlen.

    Es sei denn!!!

    Die Landesregierung beschließt kurzerhand doch noch eine Satzungsermächtigung zuzulassen. Die Landesregierung entfernt sich in letzter Zeit nämlich von ihrer Bereitschaft, Hartz IV Empfänger vor den Klauen der Kommunen zu schützen. Sie hat es unterlassen, eine Normenkontrollklage gegen den Regelsatz beim Bundesverfassungsgericht einzureichen., wie aus dem Newsletter von Harald Thomé zu entnehmen.

  2. DIe geschilderte Fall wurde nun auch vom ZDF in der Sendung „Volle Kanne“ am 24.08.11 ab 9.05 Uhr dargestellt.

  3. Die Stadt Essen hat in dem geschilderten Fall ihre Berufung zurück genommen. Das Urteil ist damit rechtskräfig.
    Das Jobcenter hat somit nach einem Hinweis des Landessozialgerichts anerkannt, dass es zumindest in den Fällen von extrem niedrigen Nebenkosten nicht nur auf die Angemessenheit der Grundmiete ankommt.
    Den Betroffenen mit deutlich unter dem Durchschnitt von 1,94 Euro/qm liegenden kalten Nebenkosten ist daher zu empfehlen, sich mit Widersprüchen gegen Kürzungen der Grundmiete zu wenden bzw. die Rechtsberatungen der BG45 aufzusuchen.