Nahles – Neue graue Eminenz der Regierungspolitik?

NahlesAndrea Nahles – die neue graue Eminenz Deutschlands?

Angesichts der Entwicklungen in der BMAS-Affäre beim Regelsatz für volljährige Menschen mit Handicap stellt sich die Frage, ob Sozialministerin Andrea Nahles die neue graue Eminenz der deutschen Regierungspolitik ist oder nicht. Denn bisher hatte sich Frau Nahles selbst dem öffentlichen Druck nicht gebeugt und konsequent an ihrer Linie festgehalten. Nunmehr ist sie aber doch „eingeknickt“ und will die Urteile des BSG zu dieser Rechtsfrage anerkennen und umsetzen. Allerdings in einer äußerst fragwürdigen Weise.

Was da im Hintergrund im politischen Berlin innerhalb der Großen Koalition so alles „gelaufen“ ist, vermögen wir nicht zu sagen. Allerdings drängt sich der Eindruck auf, dass Frau Nahles, die seit Bestehen der GroKo seitens der SPD als die neue graue Eminenz der deutschen Politik aufgebaut wurde, hier regelrecht zurückgepfiffen wurde.

Frau Nahles und die Realität

Hier hat wohl wieder einmal das Motto „Ober sticht Unter“ zugeschlagen. Allem Anschein nach hat die Bundeskanzlerin intern „ein Machtwort“ gesprochen. Sie war wohl um Wählerstimmen besorgt. Der durch das Verhalten von Andrea Nahles entstandene „Imageschaden“ für die deutsche Politik lässt sich dadurch aber nicht begrenzen. Auch wenn die deutschen Wähler im wahrsten Sinne des Wortes nur über ein absolutes Kurzzeitgedächtnis verfügen, wird aus dieser Affäre etwas hängenbleiben.

Dafür werden hoffentlich die Sozialverbände und vielleicht eingeschränkt die Religionsgemeinschaften sorgen. Denn hier wurden zum zweiten Male durch Frau Nahles die Menschenrechte mit Füßen getreten. Erst die „Geschichte“ mit der sechsmonatigen „Sperrklausel“ für Langzeiterwerbslose beim gesetzlichen Mindestlohn und nun die vorsätzliche Benachteiligung und Ausgrenzung von Menschen mit Behinderung. Das Maß ist voll!

Frau Nahles und die Chronologie des Absturzes

In diesem Zusammenhang wollen wir zuerst erneut auf unseren Artikel „BMAS und der unfassbare Rechtsverstoß“ hinweisen, in welchem wir uns der grundsätzlichen Thematik gewidmet und diese erläutert haben. Die Haltung des BMAS in dieser Rechtsfrage ist ja seit dem Jahr 2011 hinlänglich bekannt. Das diese dann aber seit ihrer Amtsübernahme auch von Frau Nahles konsequent vertreten wurde, verdeutlicht, dass die SPD nichts mehr mit der sozialen Gerechtigkeit zu tun hat, die sie sich zumindest nach außen und gegenüber der Öffentlichkeit auf die Fahne geschrieben hat. Kaum ist sie an der „Macht“, sind nahezu alle Forderungen aus der Zeit der Opposition vergessen.

Wir hoffen, dass die Sozialverbände sich nicht durch Frau Nahles, bzw. die Regierung täuschen lassen und wachsam bleiben. Ob die Kirchen es sein werden, mag bezweifelt werden. Zumindest was die katholische Kirche betrifft, die ja bekanntlichermaßen der Union „sehr nahe steht“. Das verdeutlicht ein Beitrag der katholischen Kirche zu dem „Stimmungswandel“ von Frau Nahles:

Protest von Sozialverbänden zeigt Wirkung
80 Euro mehr für Behinderte

Ein Ärgernis geht zu Ende: Erwachsene Behinderte, die nicht im eigenen Haushalt leben können, erhalten weniger Sozialhilfe als beispielsweise Ehepartner. Sozialministerin Nahles hebt die Kürzung nun auf – und setzt endlich entsprechende Urteile um.

Bundessozialministerin Andrea Nahles (SPD) beendet die Sozialhilfe-Kürzungen für erwachsene behinderte Menschen. Auch wenn sie nicht im eigenen Haushalt leben können, sollen sie genauso viel Geld erhalten wie Singles. Der Sprecher des Bundesarbeitsministeriums, Christian Westhoff, sagte dem Evangelischen Pressedienst (epd) am Dienstag auf Anfrage, Arbeitsministerin Nahles werde eine entsprechende Weisung erteilen, die so schnell wie möglich umgesetzt werden solle. Zuständig sind dafür die Bundesländer.

80 Euro mehr im Monat

Damit erhalten behinderte Menschen, die im Erwachsenenalter bei ihren Eltern wohnen bleiben, künftig jeden Monat rund 80 Euro mehr Sozialhilfe als bisher. Mit der Weisung setzt Nahles mehrere Urteile des Bundessozialgerichts aus dem vergangenen Jahr um. Die Richter in Kassel hatten argumentiert, die 20-Prozent-Kürzung verstoße gegen den Gleichheitsgrundsatz und die UN-Behindertenkonvention.

Für Erwachsene in der Grundsicherung gilt normalerweise die Regelbedarfsstufe I mit 100 Prozent der Leistungen, für Ehe- und Lebenspartner die Stufe II, in der 90 Prozent der Grundsicherung gezahlt werden. 2011 waren die Regelbedarfsstufen neu gefasst worden. Seitdem gilt für volljährige Behinderte, die nicht im eigenen Haushalt leben, die 20-Prozent-Kürzung in der Regelbedarfsstufe III. Sie ist von Behindertenverbänden vielfach als Diskriminierung kritisiert worden.

Neuregelung im Jahr 2016

Sozialministerin Nahles stellt nun eine gesetzliche Neuregelung für das Jahr 2016 in Aussicht, wenn auch die Hartz-IV-Sätze wieder neu bemessen werden. Bis sie in Kraft treten, also voraussichtlich bis Anfang 2017, soll nun eine Übergangsregelung gelten, wonach in der Bedarfsstufe III genauso hohe Leistungen bezahlt werden wie in Stufe I. Abgeschafft wird die Stufe III damit noch nicht – aber die Behinderten werden finanziell nicht länger benachteiligt.

Frau Nahles – Skepsis ist angebracht

Wie dem Beitrag des Domradios zu entnehmen ist, äußert sich der Sender nicht näher zu der fragwürdigen Vorgehensweise des BMAS und der von Frau Nahles. Genau darin ist aber die Gefahr zu sehen, denn es ist davon auszugehen, dass mit der erwähnten gesetzlichen Neuregelung die Entrechtung von Menschen mit Behinderung erneut manifestiert wird. Hierbei denken wir vorallendingen an die statistischen Tricksereien der Bundesregierung in Zusammenhang mit der methodischen Neuberechnung der Eckregelsätze im Jahr 2011 aufgrund des BVerfG-Urteils aus dem Jahr 2010.

Anscheinend teilt der auch Verein Tacheles e.V. unsere Bedenken. Deshalb haben wir uns dafür entschieden, einen hervorragend geschrieben Leitarktikel von diesem zu übernehmen:

Erstellt am 31.03.2015

Zur Ankündigung des BMAS der BSG-Rechtsprechung vorerst Folge zu leisten und sogar Leistungen nachzuzahlen

Mit gleich drei Urteilen entschied das Bundessozialgericht (BSG) am 23 Juli 2014, dass volljährigen Menschen mit Behinderung, die im Elternhaus oder in einer Wohngemeinschaften leben, der Eckregelsatz in Höhe von 100 Prozent zusteht (Aktenzeichen: B 8 SO 14/13 R, B 8  O 31/12 R, B 8 SO 12/13 R). Daraufhin hatte das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) unter anderem mit Erlass vom 8. August 2014 und späteren Rundschreiben angeordnet, diese höchstrichterliche Rechtsprechung bei der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nicht umzusetzen.

Plötzlicher Meinungsumschwung

Nach massivem öffentlichem Druck und der Veröffentlichung entsprechender Rundschreiben im Internet, lenkt das BMAS nun ein und beabsichtigt eine sogenannte „wirkungsgleiche“ Umsetzung der BSG-Urteile vom Sommer letzten Jahres. Das BMAS erkennt ferner an, dass das BSG durchaus eine Rechtsvorschrift auslegen kann ohne eine Vorlage zum BVerfG zu machen.

Weiter führt das BMAS formell eine Anhörung durch und gab den von der Regelsatzerhöhung betroffenen Bundesländern die Möglichkeit, bis zum 27. März 2015 hierzu Stellung zu nehmen. Die Länder wären zuständig, eine entsprechende und – wie zu hoffen ist – einheitliche Umsetzung der Regelsatzurteile bei Leistungen nach dem Dritten Kapitel SGB II, der Hilfe zum Lebensunterhalt, sicher zu stellen.

Danach will das BMAS durch Erlass regeln, dass rückwirkend bis zum 01.01.2013 – ohne extra Antrag, Überprüfungsantrag, Widerspruch oder anhängigem Klageverfahren – der Eckregelsatz/Regelbedarfsstufe 1 nachzuzahlen ist. Das bedeutet, dass für rund 40.000 betroffene Grundsicherungsbeziehende rückwirkend bis Januar 2013 76 EUR (2013), 78 EUR (2014) und 79 EUR (2015) pro Monat, also für insgesamt 27 Monate 2.085 EUR nachzuzahlen sind. Vorsorglich ist darauf hinzuweisen, dass der Nachzahlungsbetrag mit 4 Prozent zu verzinsen (§ 44 Abs. 1 SGB I) und nicht als Einkommen anzurechnen ist (§ 82 Abs. 1 S. 1 SGB XII). Mit Blick auf den nicht unerheblichen Nachzahlungsbetrag und das niedrige Schonvermögen in Höhe von 2600 EUR überlegt das BMAS, den Betrag zwei Jahre lang als Vermögen anrechnungsfrei zu stellen.

Von dieser Regelung profitieren im Übrigen nicht nur Menschen mit Behinderung. Auch erwachsene voll erwerbsgeminderte Personen, die z.B. bei den Eltern wohnend Leistungen nach dem Dritten oder Vierten Kapitel SGB XII beziehen, und keinen eigenen Haushalt führen, müssen in die Regelung miteinbezogen werden, wenn ein Mindestmaß an eigener Haushaltsführung vorliegt.

Pläne des Ministeriums sind unklar

Bei dem Schreiben handelt es sich allerdings nur um eine befristete Anweisung, die in erster Linie darauf abzielt, derzeit bei den Sozialgerichten anhängige Verfahren zu beenden bzw. neue vorerst zu vermeiden. Des Weiteren ist man dort offensichtlich um eine Begrenzung des Imageschadens in der öffentlichen Wahrnehmung bemüht.

Das BMAS hält grundsätzlich an seiner Rechtsauffassung fest, dass Menschen mit Behinderung, die nicht alleine oder als Partner in einem Haushalt leben, einen (nach unten) abweichenden Bedarf zum Lebensunterhalt haben. Bei der aktuell laufenden Erhebungen der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe, deren Ergebnisse Ende 2015 erwartet werden, könnte demnach nachgebessert und der Bedarf der Personengruppe in einer Sonderauswertung genauer erfasst werden. Ziel dieser erweiterten Datenerhebung und -auswertung könnte sein, mit einer statistisch untermauerten, hinreichend begründeten, neuen Regelbedarfsstufe 3 für SGB-XII-Leistungsbeziehende ohne eigenen Haushalt die Vorgaben der BSG-Rechtsprechung erneut zu umschiffen.

Im Sinne einer ernst gemeinten Inklusion wäre es allerdings längst überfällig, dass sich auch in Bezug auf behinderte und voll erwerbsgeminderte erwachsene Menschen eine gesetzliche Vermutungsregelung durchsetzt, die eine eigenständige und von Mitbewohnern unabhängige Lebensführung als Regel konstituiert und Leistungsberechtigten nicht als lebenslängliche Anhängsel eines wie auch immer gearteten „Haupthaushalts“ definiert.

Beständiger Widerstand

Vielleicht ist das einer der Gründe, warum das BSG beständig seit 2009 unter unterschiedlichen rechtlichen Vorgaben zur Regelsatzermittlung an dem 100-Prozent-Regelsatz für Menschen mit Behinderung festhält. Trotz oder gerade wegen des Konfrontationskurses des Bundesministeriums untermauerte das Gericht mit zwei weiteren Urteilen vom 24. März 2015 seine Rechtsprechung zum 100-Prozent-Regelsatz und zur Vermutung einer gemeinsamen Haushaltsführung unter Beteiligung des behinderten Menschen (http://juris.bundessozialgericht.de/cgi-bin/rechtsprechung/document.py?Gericht=bsg&Art=ps&Datum=2015&nr=13788&pos=0&anz=6).

Durch die konsequente Veröffentlichung der ministerialen Verwaltungsanweisungen, deren Skandalisierung und der Erzeugung öffentlicher Aufmerksamkeit für ein Thema, das längst in Vergessenheit geraten schien, konnte der überraschende Meinungsumschwung beim BMAS befördert werden. Der Druck hat sich gelohnt: Eine generelle Nachzahlung von Leistungen mit 27 Monaten Rückwirkung ohne extra Überprüfungsantrag, das hat Seltenheitswert. Die Nachahmung ist daher wärmstens zu empfehlen.

Frank Jäger & Harald Thomé

Tacheles-Onlineredaktion

Frau Nahles – Und der nächste Coup

Wie Frau Nahles versuchen wird, Leistungsberechtigte mit Behinderung weiter hinters Licht zu führen, wird Bestandteil eines weiteren Artikels werden.

Dem fehlte nie, der freche Laster übte, die Unverschämtheit, seine Tat zu leugnen.
William Shakespeare

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3 Antworten zu Nahles – Neue graue Eminenz der Regierungspolitik?

  1. Reni Tenz sagt:

    Aus dem BMAS-Rundschreiben 2015/8 an die Länder geht eindeutig hervor, dass das BMAS an seiner bisherigen Rechtsauffassung festhält und die BSG-Entscheidung gar nicht umsetzen will.
    Die Bundesaufsichtliche Weisung des BMAS und weitere wichtige Informationen finden Sie auf dem Blog: https://elerbeki.wordpress.com/2015/04/01/bundesaufsichtliche-weisung-des-bmas/comment-page-1/#comment-5

  2. Gabi sagt:

    Ich habe gestern bei der Grundsicherungsstelle angerufen. Derzeit haben sie noch keine Weisung erhalten den erhöhten Grundsicherungsbetrag zu bezahlen. Trotz der Bekanntgabe der Weisung des BMAS. Sie haben noch keine anweisung erhalten.