Hartz4: Stadt Essen zahlt kinderreichen Familien zu wenig Miete

family-43873_1280Gelder werden widerrechtlich und systematisch vorenthalten

„Bedarfe für Unterkunft und Heizung werden in Höhe der tatsächlichen Aufwendungen anerkannt, soweit diese angemessen sind“, heißt es schlicht in § 22 (1) des 2. Sozialgesetzbuches. Die Frage, welche Miethöhe denn nun angemessen ist, ist genauso alt wie Hartz4 und musste letztlich immer wieder durch Sozialgerichte entschieden werden.

Welche Wohnungsgröße als angemessen zu gelten hat, ist seit einem Urteil des Bundessozialgerichtes (BSG) aus dem Jahr 2012 geklärt (AZ: B 4 AS 109/11 R). Dennoch informiert die Stadt Essen in diesem Punkt falsch. Leistungsberechtigten werden so widerrechtlich und systematisch Gelder vorenthalten. Betroffen von dieser Falschinformation sind Bedarfsgemeinschaften mit mehr als fünf Personen, in der Regel also kinderreiche Familien. Eine ebensolche kinderreiche Familie hatte gegen diese Benachteiligung Widerspruch eingelegt.

Ermittlung der angemessenen Miete

Seit 2012 wird nicht mehr die Netto-, sondern die Brutto-Kaltmiete (also Kaltmiete plus Betriebskosten exklusive Heizkosten) berechnet. Die Berechnungsgrundlage lautet: Angemessener Quadratmeterpreis mal angemessene Quadratmeterzahl (Produkttheorie).

Hierbei richtet sich die Frage, wie groß eine Wohnung sein darf, nach der Richtlinie des Wohnraumfördergesetzes des jeweiligen Bundeslandes. Für NRW (und somit für Essen) heißt das: 50 qm für die erste Person plus 15 qm für jede weitere Person in der Bedarfsgemeinschaft gelten als angemessen.

Die Frage, wie teuer der Quadratmeter sein darf, richtet sich nach dem örtlichen Mietspiegel. Da in Essen die Zeit spätestens im Jahr 1998 stehen geblieben ist, gelten nach wie vor 4,70 Euro / qm als angemessen. Hinzu kommen 2,- Euro Betriebs-(Neben-)kosten / qm. Somit beträgt die angemessene Brutto-Kaltmiete 6,70 Euro / qm (zuzüglich Heizkosten in voller tatsächlicher Höhe, soweit angemessen). Von diesem Quadratmeterpreis darf in engen Grenzen in Abhängigkeit von der Größe der Wohnung abgewichen werden. In Essen sind dies bis zu +9 % bei besonders kleinen und bis zu -4 % bei besonders großen Wohnungen (Quelle: DIS-Mietspiegel-Essen 2013, Seite 29)

Bei 50 qm für eine Person ergeben sich dementsprechend die in Essen als angemessen anerkannten 335,- Euro Brutto-Kaltmiete. Jeder weiteren Person stehen zusätzliche 15 qm zu (was in Essen 100,50 Euro entspricht). Soweit so einfach – sollte man denken. Nicht jedoch, wenn man dieser Tabelle auf der städtischen Seite des JobCenters folgt:

Angemessene UnterkunftskostenQuelle: Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes (Stand 2015)

Falschinformation des JobCenters Essen

Nach dieser Tabelle bekommen Bedarfsgemeinschaften ab der sechsten Person nämlich nicht wie gesetzlich vorgeschrieben 15 qm (also 100,50 Euro), sondern nur 10 qm (nur 67,- Euro) zusätzlich anerkannt. Eine rechtliche Grundlage für diese Benachteiligung großer Bedarfsgemeinschaften, in der Regel kinderreiche Familien, gibt es nicht.

Betroffen von dieser Essener „Sonderregelung“ war im konkreten Fall eine achtköpfige Familie, deren Miete bereits seit mehreren Jahren nicht in voller Höhe übernommen wurde. Nachdem sie auf diesen Umstand aufmerksam wurde, reichte sie gegen ihre Kürzung der Miete Widerspruch ein. Das JobCenter Essen lehnt den Widerspruch zunächst ab. Nachdem die Familie Klage eingereicht hatte, gab das JobCenter wenige Tage vor der Gerichtsverhandlung nach. Angenehmer „Nebeneffekt“ für das JobCenter: Ein Aktenzeichen, auf das in vergleichbaren Fällen Bezug genommen werden könnte, wurde vermieden. Die Forderungen wurden in vollem Umfang anerkannt. Die Familie darf sich über eine größere Nachzahlung (ab 01.01.2012) freuen, ihre Miete wird künftig  in voller Höhe übernommen.

Dennoch ist der Fall letztendlich nicht abgeschlossen: Denn obwohl das JobCenter Essen die Forderungen als berechtigt anerkannt hat, stehen die falschen Informationen bis dato (30.03.2015) auf der städtischen Internetseite. Offenkundig ist das JobCenter Essen nicht gewillt, diese rechtswidrige Praxis von sich aus zu beenden. Statt eine Überprüfung sämtlicher Mietzahlungen des betroffenen Personenkreises (Bedarfsgemeinschaften mit mehr als fünf Personen) und notwendige Korrekturen (inklusive Nachzahlungen) vorzunehmen, setzt man anscheinend lieber auf die mangelnde Information der Leistungsberechtigten. Hierin kann man durchaus einen Verstoß gegen die Informationspflicht des JobCenters Essen sehen.

„Essen – Großstadt für Kinder“ – nur eine Überschrift

Dabei haben Politik und Verwaltung unter der Überschrift „Essen – Großstadt für Kinder“ das Ziel ausgegeben, gerade auch kinderreiche Familien zu fördern. Doch genau diesem Personenkreis werden durch die rechtswidrige Praxis des Jobcenters Essen systematisch Leistungen vorenthalten. „Essen – Großstadt für Kinder“ entpuppt sich so als eine weitere folgenlose Überschrift.

Das BG45 – Hartz4-Netzwerk-Essen e.V. rät allen Betroffenen eine Hartz4-Beratung aufzusuchen. Die Offenen Hartz4-Beratungen der BG45 werden von Fachanwälten für Sozialrecht durchgeführt und sind für die Ratsuchenden kostenlos.

Beratungstermine der BG45 – Hartz4-Netzwerk Essen e.V.:

Montags, 9.30 bis 11.30 Uhr, Altendorf (Gemeindezentrum Lutherkirche, Ohmstraße 9)
Dienstag, 13.30 bis 16.30 Uhr, Innenstadt (Heinz-Renner-Haus, Severinstraße 1)
Mittwochs, 9 bis 11 Uhr, Huttrop (Der Paritätische, Camillo-Sitte-Platz 3)
Mittwochs, 15 bis 16.30 Uhr, Innenstadt (Weigle-Haus, Hohenburgstraße 96)
Freitags, 9 bis 11 Uhr, Borbeck (Sozialpädagogische Familienhilfe, Rechtstraße 7-9)
Freitags, 9 bis 12 Uhr, Steele (Gemeindezentrum Königssteele, Kaiser-Wilhelm-Straße 39)

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Eine Antwort zu Hartz4: Stadt Essen zahlt kinderreichen Familien zu wenig Miete

  1. Bella sagt:

    Hallo BG45-Team,

    folgt man dem Link zur Quelle der Tabelle, traut man seinen Augen kaum.

    Nicht nur, dass hier ein asbach-uralter Mietspiegel zu Grunde gelegt wird, es hat wohl auch – oh, Wunder – innerhalb von 8 Monaten eine Reduzierung der Mieten in Essen stattgefunden. Wie sonst will die Stadt Essen es erklären, dass seit dem 01.09.2015 (an die Erstantragsteller) noch weniger KdU gezahlt werden? Hiervon sind alle Haushaltsgrößen betroffen, aber eben auch besonders wieder die Großfamilien.

    Angesichts der hohlen Phrasen hinsichtlich Kindern, Familien etc., die von der Stadt Essen gedroschen werden, kämpfe ich mit einem permanenten Würgereiz.

    Gruß Bella