Urteil des BVerfG vom 9. Feb. 2010

BVerfG verwirft weitere wesentliche Elemente des SGB II

Nachdem das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) bereits im Dezember 2007 die Hartz-Behörden, also die Argen, für verfassungswidrig erklärt hatte, werden nun weitere wesentliche Elemente des SGB II verworfen:

1. Festlegung des Regelsatzes

Zulässig ist die grundsätzliche Methode der Berechnung des Eckregelsatzes (für Erwachsene). Das heißt, der Gesetzgeber durfte vom vorgegebenen Warenkorb auf eine statistische Berechnung umsteigen, wo nach den tatsächlichen Verbrauchen einer unteren Einkommensschicht geschaut wurde. Er hat hierbei einen vertretbaren Personenkreis ausgesucht und die Verbrauchsgegenstände auch in richtige Abteilungen eingeteilt. Jedoch hat er dann prozentuale Abzüge vorgenommen, die nicht nachvollziehbar, also intransparent sind. Deswegen sind bereits die Eckregelsätze verfassungswidrig und folglich auch alle abgeleiteten Regelsätze für Kinder oder Partner. Für die Zukunft wird damit also klargestellt, dass an das Verfahren der Ermittlung des Regelsatzes Anforderungen zu stellen sind und diese durch das BVerfG überwacht werden. Dieses Verfahren der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS) wird nun also öffentlich und zum Feld gesellschaftlicher Auseinandersetzung, während diese grundlegende Bedarfsfestsetzung bisher in der Bürokratie unbehelligt von statten gehen konnte.

2. Anpassung des Regelsatzes

Verfassungswidrig ist auch die Methode, die Anpassung der Regelsätze an die Rentenentwicklung zu koppeln. Hiermit wollte sich der Gesetzgeber erneut wie bei der Festlegung des Regelsatzes aus seiner demokratischen Verantwortung stehlen und sich auf einen Quasi-Automatismus berufen, während in der Tat die Rentenentwicklung in erheblichen Umfang von politischen Entscheidungen abhängt (Stichwort: demografischer Faktor).

In der Zeit zwischen den EVS alle fünf Jahre, wäre nach dem BVerfG aber eine Anpassung der Regelsätze nach der Teuerungsrate oder anderen Daten möglich, die von den statistischen Ämtern erhoben werden.

3. Bedarfsdeckungsprinzip

Die größte Überraschung des Urteils ist der Abschied von den reinen Pauschalierungen. Ein wesentliches Vorhaben des Hartz-4-Gesetzgebers war die Abstraktion von konkreten Menschen mit individuellen Bedürfnissen zu einer pauschalen Geldleistung, die alle Notwendigkeiten des täglichen Lebens abdecken sollte. Es gab keine Härteklauseln oder Öffnungen zu anderen Leistungen wie der Sozialhilfe in besonderen Fällen. Lediglich einmalige Sonderbedarfe konnten als Darlehen übernommen werden, wenn sie nicht aus Ansparungen des Hilfsbedürftigen zu decken waren. Dieses Darlehen wurde anschließend mit bis zu 10% vom Regelsatz einbehalten (§ 23 Abs. 1 SGB II).

Die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) und z. B. des Landessozialgerichts NRW hatten für wiederkehrende Bedarfe auf eine umständliche Konstruktion zurückgegriffen, wonach teilweise Sozialhilfeleistungen ergänzend gewährt werden konnten, obwohl der Gesetzgeber eben dieses ausdrücklich nicht wollte. Da die Rechtsprechung jedoch mit dieser offenen Revolte gegen den Gesetzgeberwillen nicht zu weit gehen wollte, hatte sie immer zugleich betont, dass dieses nur wenige Ausnahmefälle betreffen würde und keine klare Systematik hierzu entwickelt.

Das BVerfG hat nun diese „Tür“, die nur einen kleiner Spalt geöffnet war, aufgestoßen. Und in diesem Punkt wartet das BVerfG auch nicht auf Versuche des Gesetzgebers, eine Regelung einzuführen. Es hat ab sofort angeordnet, dass ein Anspruch auf laufenden besonderen Bedarf vor den Sozialgerichten eingeklagt werden kann.

Welche besonderen Bedarfe dieses betrifft, kann man zum Teil aus der Begründung des Urteils ersehen, zum Teil wird es erst die Rechtsprechung der Fachgerichte in den nächsten Jahren erweisen. Das BVerfG ist der Meinung, dass solche Bedarfe, die gar nicht im Regelsatz enthalten sind oder nicht in der Höhe enthalten sind wie sie bei der Regelsatzberechnung angerechnet wurden, hierzu grundsätzlich geeignet sind. Zusätzlich darf auch keine Kompensation aus anderen Abteilungen der EVS möglich sein. Mittelfristig werden wir uns also die neue, transparente Auswertung der EVS genau anzusehen haben und im Einzelfall angucken, wo der tatsächliche, besondere Bedarf die angesetzten Werte übersteigt. Diese Differenz wird dann als Sonderbedarf bei der Behörde zu beantragen sein und ggf. auch gerichtlich zu erstreiten sein.

Noch größer dürften die Erfolgschancen für die Geltendmachung von Sonderbedarfen sein, bevor zum 01.01.11 eine gesetzliche Regelung in Kraft tritt. Denn die Regelsätze sind methodisch falsch berechnet und intransparent. Die Behörde wird große Schwierigkeiten haben auf dieser Grundlage darzulegen, warum ein bestimmter Sonderbedarf in der Höhe von den Regelsätzen abgedeckt ist. Als Beispiele für solche Sonderbedarfe fallen mir ein: Mitgliedsbeiträge zu einem (Sport-)Verein, Fahrtkosten für den ÖPNV, Gesundheitskosten wie Zuzahlungen für Medikamente, Umgangskosten mit Kindern bei getrennten Elternpaaren, Stromverbrauche oberhalb der Regelsatzhöhe.

Als Kontrolle könnte dabei der Abgleich der laufenden Kosten des Hilfsbedürftigen mit den Werten dienen, die in die Regelsatzberechnung eingegangen sind,  dort unter „Zusammensetzung und Berechnung der Leistungshöhe“

Fazit: Die Leistungen der Grundsicherung müssen bedarfsdeckend im Sinne der Menschenwürde sein. Entweder weist der Gesetzgeber nach, dass er alle Bedarfe auch der sozialen, kulturellen und politischen Teilhabe bei dem Regelsatz richtig einbezieht und/oder die Gerichte dürfen im Einzelfall zusätzliche Bedarfe zusprechen.

Rechtsanwalt Jan Häußler

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11 Antworten zu Urteil des BVerfG vom 9. Feb. 2010

  1. sonja ostenförth sagt:

    ich bin geschieden und alleinerziehend (10+16 J)
    und chronisch krank, schwerbehindertenausweiß 50% liegt vor. ich bin verunsichert nach den ganzen nachrichten.
    bekomme ich jetzt meine ganzen medikamente bezahlt auch die nicht rezeptpflichtigen? gehöre ich zu einer der neuen gruppen dennen mehr zu steht?

  2. Für die „Gesundheitspflege“ sind im Regelsatz in Abteilung 6 monatlich 12,25 Euro vorgesehen. Wenn die monatlichen Ausgaben für Gesundheitspflege regelmäßig diesen Betrag wesentlich überschreiten, ist dieses ein Indiz dafür, dass der Betroffene einen dauerhaften, atypischen Bedarf hat. Wenn nur durch diese Ausgaben ein menschenwürdiges Leben möglich ist, weil die Medikamente medizinisch erforderlich sind, ist der Bedarf zudem unabweisbar. In diesem Fall sollten sämtliche Quittungen gesammelt werden und eine Kostenübernahme bei dem Job Center schriftlich beantragt werden.
    Möglicherweise wird nun sehr schnell von der Bundesagentur für Arbeit eine Weisung an die Job Center erfolgen, welche Fälle durch Pauschalen abgegolten werden sollen. Diese Dienstanweisung kann jedoch niemals abschließend sein, sondern lediglich typische Fälle unter den atypischen Fällen erfassen. Eine solche Anweisung der Behörde ist kein Gesetz und kann daher von jedem Gericht problemlos übergangen werden. Man sollte daher immer auf seine konkreten Kosten bestehen, wenn diese über der Pauschale liegen.

  3. sonja sagt:

    danke für die schnelle Antwort

  4. Sabine B. sagt:

    ich bin alleinerziehend mit 2 minderjährigen und einem volljährigen ADHS-Kindern.Regelmäßige Arztbesuche sind a der Tagesordnung, außerdem reicht das Geld nicht um den Bekleidungsbedarf zu decken. Antrag auf rückwirkende Prüfung des Bescheides habe ich vor dem Urteilstermin gestellt. Ich selber bin multipler Allergieker und nur eingeschränkt arbeitsfähig durch die Krankheit der Kinder und auch meiner eigenen. Welche Möglichkeiten habe ich im Bezug auf Sonderbedarf?

  5. Dass Sie bereits vor dem 09.02.10 den Überprüfungsantrag gestellt haben, könnte für Sie sehr von Vorteil sein. Denn nach Maßgabe des BSG-Urteils vom 18.02.10 ist nur in „laufenden Verfahren“ ein Bedarf für die Vergangenheit zu berücksichtigen. Damit könnten eben solche Überprüfungsverfahren gemeint sein, wie von Ihnen beantragt.

    Es wird für Sie sinnvoll sein, notwendige Ausgaben zu beziffern, die mit den Sondebedarfen anfallen – wie Medikamentenkosten. Nur wenn man diese Bedarfe mit den Abteilungen der Regelsätze vergleicht, kann man beurteilen, ob Sie zusätzliche Ansprüche haben.

  6. Patrick sagt:

    was kann ich machen wenn das Jobcenter RICHTIG Mist gebaut hat ? Wie z.b man mir unterstelltr ich wäre erst seit dem 01.02.2010 in meiner neuen wohnung gemeldet und dabei war ich es schon am 03.10.2009…dazu kommt dann plötzlich ein brief meine nebenkosten seien runter gegangen wobei es nicht der fall ist und sie mir nun weniger zahlen …anbei der hammer das ich nun zu unrecht geld bezogen haben soll und mir mit sanktionen gedroht wird …mit der netten behauptung ich sei einfach ohne GENEHMIGUNG des Jobcenter Süd Umgezogen … was eigendlich ja nicht geht wenn man sein geld weiter bekommen möchte… da ich meine neue adresse angeben musste und ich ja auch fragen musste ob ich diese mit meiner Multiple Sklerose erkrankten Lebensgefärtin überhaupt nehmen darf … man muss ja immer alles absegnen lassen von denen …. anbei wird man dazu noch angepöbelt und absolut missachtet… es ist denen anscheind ( scheiss egal ) was mit einem ist …wie man sich fühlt und was aus einem wird ! Nicht Umsonst ist das JC Süd das Amt mit den meisten Klagen ! Ich habe zu meinem guten Gewissens damals den Mietvertrag und auch meine Ummeldebescheinigung abgegeben und DIE haben es verschlampt ! Ich möchte mit Ihnen gerne dagegen angehen zumal ich auf einen gewissen paragraphen aufmerksam machen möchte den das Amt anscheind nicht kennt … §1 … Die Würde des Menschen ist Unantastbar… dank Harz4 anscheinend doch :-( dann kommt noch 2 und 3 dazu … das alles zählt nicht wenn nicht ein Anwalt dieses denen mal auf den Tisch klatscht … ich bin Psychisch am Ende … ich lasse mir das nicht mehr gefallen und mich weiter schikanieren … ich bin ein Mensch und kein Potenzielles Opfer und Leid tragender Sklave des Deutschen Staates. PS. Es gibt einen Netten Artikel … wo geschrieben steht … ein Polizeihund bekommt mehr achtung und geld wie ein harz 4 empfänger Hund etwa über 6 euro und der mensch etwas über 4 euro … … nun gut bei all meiner tierliebe… aber wo sind wir gelandet ? ARMES DEUTSCHLAND ! Ich hoffe SIE können mir Helfen und meinem Lebensgefühl wieder neuen Schwung geben … dadurch das ich mich im Recht bestätigt sehe und mit Ihnen mal auf den Tisch haue ! Für mich und alle anderen betroffenen !… mfg Patrick.P

  7. Maria C. (Name von der Redaktion geändert) sagt:

    Keine Bedarfsdeckung durch Arbeit.Neue ALG II-V- Verordnung :

    Ich beziehe wegen voller Erwerbsunfähigkeit auf 3 Jahre befristet EU-Rente von 594,- €, da ich seit Kindheit rheumakrank bin.

    Jetzt nach Erhalt des Rentenbescheides zähle ich in unserer Bedarfsgemeinschaft als Sozialgeld-Empfänger, da ich 2 Kinder über 15 J. ohne Unterhalt habe, die Alg2 – berechtigt sind.
    Nun fordert man – auch rückwirkend – seit Rentenbewilligung mein kleines unregelmässiges Zusatzeinkommen vollständig zurück. Auch die Beträge unter 100,-€.
    E gab die Anweisung der Argen, Sozialgeldempfängern bei Zuverdienst nicht die Freibeträge einzuräumen (§30).

    Im SGB2 wird nur über Einkommesbereinigung bei erwerbsfähigen Hilfebedürftigen gesprochen.
    Über erwerbsunfähige Sozialgeldempfänger ist nirgendwo etwas geschrieben.
    Da ich falsch informiert wurde (durch Arge selbst)
    habe ich – in der Annahme, dass es die üblichen pauschalen Freibeträge gibt, keine Belege über Fahrtkosten etc. aufbewahrt.

    Könne mir jemand helfen?
    Mit fr. Gruß

  8. Waltraut Steuer sagt:

    Liebe Frau Maria C. (Name von der Redaktion geändert),
    bitte besuchen Sie am Montag 22.11. die Beratung bei RA Häußler. Nehmen Sie Ihre Bescheide und die Schreiben mit den Rückforderungen vollständig mit. Mit Sicherheit ist da etwas nicht in Ordnung, aber Ihre Frage verlangt eine rechtliche Fachberatung, die wir nicht über das Netz anbieten dürfen.
    Vertrauen Sie sich bitte dem Rechtsanwalt an.

  9. Maria C. (Name von der Redaktion geändert) sagt:

    Vielen Dank für Ihre Antwort. Werde die Sache wie oben vorgeschlagen handhaben.

    In den Arbeitsanweisungen der Arge wird dieser Fall erwähnt, aber gibt es denn keinen Satz in der Rechtsprechung dazu? So ungewöhnlich ist doch der Fall nicht…
    Einkommensbereinigung bei nicht erwerbsfähigen Mitgliedern der Bedarfsgemeinschaft, sprich Sozialgeldempfänger über 15 J.?

    Wurde diese Gruppe schlichtweg vergessen?

    Vielleicht finden Sie eine allg. Auskunft darüber.
    Herzl. Grüße
    Maria C. (Name von der Redaktion geändert)

  10. yxasMaria@web.de sagt:

    Daswürde mich auch mal interessieren,meine Mutter erhält Frührente und Sozialgeld wegen der Kinder, unser Vater zahlt keinen UNterhalt. Darf meine Mutter dazuverdienen, sie ist zwar erwerbsunfähig, aber ist natürlich über 15 und muss dazuverdienen.

  11. Ulrike Burazin sagt:

    Meinem Antrag auf EU-Rente (voll auf Zeit bis 30.09.2013) wurde entsprochen. Ich erhalte ab Dezember rund 470,- netto Rente. In meinem Haushalt lebt noch mein 19-jähriger Sohn, welcher noch zur Schule geht. Aufgrund meines nicht ausreichendem Vollzeitlohnes bin ich schon seit langem ein s.g. Aufstocker. Wer ist nun für den Zeitraum bis 2013 für mich zuständig? Jobcenter oder Sozialamt? Wenn ich das richtig verstanden habe, kann ich keine Grundsicherungsrente beantragen, weil ich eine Zeitrente erhalte. Ist das richtig? Was steht mir überhaupt jetzt zu? Ich habe einen Schwerbehindertenausweis mit dem Merkzeichen G und einem Grad von 70.