Bagatellgrenze – Mehrbedarf bei Umgangsrecht

BagatellgrenzeBagatellgrenze – und ihre faktische Wiedereinführung

Die Bundesagentur für Arbeit hat mal wieder eine „geniale“ Masche entwickelt, um die durch das BSG gekippte Bagatellgrenze in Höhe von 10% des Regelbedarfes zu umgehen. Durch das Grundsatzurteil aus dem letzten Sommer wurde der Praxis ein Riegel vorgeschoben, die Leistungsberechtigte dazu zwang, bis zu 10 % ihres Regelsatzes als Mehrbedarf für die Ausübung eines Umgangsrechtes zu verwenden. Wie die BA dieses Grundsatzurteil nun „umgesetzt“ hat, grenzt an einen vorsätzlichen Rechtsbruch.

Bagatellgrenze – Die Pressemitteilung des BSG

Zur Erinnerung und zur Einführung in das Thema zitieren wir zuerst die damalige Presseerklärung des BSG zu dem Urteil zur vermeintlichen Bagatellgrenze:

Medieninformation Nr. 13/14

Keine Bagatellgrenze von 10 % des Regelbedarfs für die Umgangskosten mit Kind

Nach dem Grundsatzurteil des Bundesverfassungsgerichts vom 9. Februar 2010 (1 BvL 1/09 ua – BVerfGE 125, 175) zum Leistungsrecht der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem SGB II ‑ landläufig „Hartz IV“ genannt ‑ haben Arbeitslosengeld II-Empfänger einen speziellen Anspruch auf Leistungen für einen unabweisbaren, laufenden, nicht nur einmaligen, besonderen Bedarf, der mittlerweile auch in § 21 Abs 6 SGB II ins Gesetz geschrieben wurde.

Den Antrag des Klägers, der Arbeitslosengeld II bezog, auf einen solchen Mehrbedarf im Juli 2010 wegen der Ausübung des Umgangsrechts (alle 2 Wochen) mit seiner im Jahr 2006 geborenen, aber nicht bei ihm, sondern in 17 km Entfernung bei ihrer Mutter lebenden Tochter lehnte das beklagte Jobcenter ab. Es meinte, bei einer Entfernung von 17 km und jeweils zweimaliger Hin- und Rückfahrt mit dem PKW sowie einer Pauschale von 0,20 Euro je Entfernungskilometer ergebe sich nur ein Betrag von 13,60 Euro im Monat, der unter einer Bagatellgrenze von 10 % des Regelbedarfs ‑ damals 359 Euro ‑ liege. Vor dem Sozialgericht und dem Landessozialgericht war der Kläger erfolgreich, sie haben ihm 27,20 Euro pro Monat bei einer Pauschale von 0,20 Euro pro Kilometer zugesprochen.

Das Bundessozialgericht hat mit Urteil vom 4. Juni 2014 die Auffassung des Klägers und der Vorinstanzen bestätigt.

Dass der Kläger, wie alle Eltern, die Arbeitslosengeld II beziehen, grundsätzlich Anspruch auf einen Mehrbedarf wegen der Kosten des Umgangsrechts mit seiner von ihm getrennt lebenden Tochter hat, ergibt sich aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 9. Februar 2010 (1 BvL 1/09 ua – BVerfGE 125, 175) und dem daraufhin vom Gesetzgeber geschaffenen § 21 Abs 6 SGB II.

Der Anspruch setzt zwar einen vom durchschnittlichen Bedarf erheblich abweichenden, unabweisbaren, laufenden, nicht nur einmaligen Mehrbedarf voraus. Ein solcher ist aber gegeben, wenn für die Fahrten zur Ausübung des Umgangsrechts jeweils 68 km mit einem PKW zurückgelegt werden müssen und das Umgangsrecht alle zwei Wochen besteht. Denn selbst wenn nur eine Kilometerpauschale von 20 Ct wie nach dem Bundesreisekostengesetz zugrunde gelegt wird, ergibt sich ein Betrag von 27,20 Euro pro Monat. Dieser Betrag beinhaltet auch eine erhebliche Abweichung vom durchschnittlichen Bedarf hinsichtlich der Regelleistung von damals 359 Euro insgesamt und des in der damaligen Regelleistung enthaltenen Betrags für Fahrtkosten von hochgerechnet gut 20 Euro, zumal in diesen die Ausgaben für PKW nicht berücksichtigt wurden.

Eine Rechtsgrundlage für die von dem beklagten Jobcenter vertretene allgemeine Bagatellgrenze ist nicht zu erkennen. Eine Heranziehung der 10 %-Regelung für die Rückzahlung von Darlehen nach § 42a SGB II scheidet aus. Bei einem Darlehen haben die Betroffenen das Geld vorher erhalten, das sie dann an das Jobcenter zurückzahlen, während es ihnen bei einer Bagatellgrenze vorenthalten würde, obwohl sie darauf einen Anspruch haben.

Az.:  B 14 AS 30/13 R                        P.  ./.  Jobcenter Arbeitplus Bielefeld

Hinweise zur Rechtslage

§ 21 Abs 6 SGB lautet: „Bei Leistungsberechtigten wird ein Mehrbedarf anerkannt, soweit im Einzelfall ein unabweisbarer, laufender, nicht nur einmaliger besonderer Bedarf besteht. Der Mehrbedarf ist unabweisbar, wenn er insbesondere nicht durch die Zuwendungen Dritter sowie unter Berücksichtigung von Einsparmöglichkeiten des Leistungsberechtigten gedeckt ist und seiner Höhe nach erheblich von einem durchschnittlichen Bedarf abweicht.“

In der maßgeblichen Bundestagsdrucksache 17/1465 (Beschlussempfehlung und Bericht des Haushaltsausschusses) wird auf Seite 9 ausgeführt:

„Anwendungsfälle der Härtefallklausel des § 21 Abs 6 SGB II können dauerhaft benötigte Hygienemittel bei bestimmten Erkrankungen (z.B. HIV, Neurodermitis), Putz- bzw. Haushaltshilfe für Rollstuhlfahrer und Kosten zur Wahrnehmung des Umgangsrechts bei getrennt lebenden Eltern sein. Diese Aufzählung ist nicht abschließend.“

Bagatellgrenze – Die Taktik

Wie die BA versucht, das Urteil des BSG zur Bagatellgrenze zu umgehen, ist ganz zurückhaltend gesagt, schlichtweg abenteuerlich. Daher zuerst die „alte Fassung“ der Fachlichen Hinweise:

Fachliche Hinweise § 21 (12-2013)

Bagatellgrenze (21.34)

„(3) Unter Berücksichtigung der Tatsache, dass die Regelbedarfe als pauschaler Gesamtbetrag gewährt werden, ist es einer leistungsberechtigten Person vorrangig zumutbar, einen höheren Bedarf in einem Lebensbereich durch geringere Ausgaben in einem anderen Lebensbereich auszugleichen. Die Leistungsberechtigten haben in ihrem Ausgabeverhalten das Eintreten unregelmäßig anfallender Bedarfe zu berücksichtigen (vgl. § 20 Abs. 1 Satz 4). Dies kann bei besonderen Bedarfen, die in der Summe 10 Prozent des maßgebenden Regelbedarfs nicht übersteigen, jedenfalls erwartet werden. Im Übrigen ist eine Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls erforderlich.“

(4) Ein Hilfebedürftiger hat alle Möglichkeiten zur Reduzierung seiner Aufwendungen für besondere Bedarfe zu nutzen; so ist z. B. bei den Kosten zur Wahrnehmung des Umgangsrechts auf günstige Verkehrsmittel und Inanspruchnahme von Fahrpreisermäßigungen zu verweisen.

(5) Wird Erwerbseinkommen erzielt, so bleibt dieses auch bei der Berechnung von Leistungen für besondere laufende Bedarfe in Höhe des Erwerbstätigenfreibetrags nach § 11b SGB II außer Betracht. Der Freibetrag bei Erwerbstätigkeit ist weiterhin von dem monatlichen Einkommen aus Erwerbstätigkeit abzusetzen.

Hier nun die geänderte „Version“:

Fachliche Hinweise § 21 (12-2014)

keine pauschale Bagatellgrenze (21.34)

(3) Unter Berücksichtigung der Tatsache, dass die Regelbedarfe als pauschaler Gesamtbetrag gewährt werden, ist es einer leistungsberechtigten Person vorrangig zumutbar, einen höheren Bedarf in einem Lebensbereich durch geringere Ausgaben in einem anderen Lebensbereich auszugleichen. Die Leistungsberechtigten haben in ihrem Ausgabeverhalten das Eintreten unregelmäßig anfallender Bedarfe zu berücksichtigen (vgl. § 20 Abs. 1 Satz 4). Eine allgemeine Bagatellgrenze in Höhe von 10 % des Regelbedarfs ist im SGB II nicht festgelegt. Es ist daher eine Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls erforderlich (BSG, Urteil vom 04.06.2014, Az: B 14 AS 30/13 R).

(4) Eine leistungsberechtigte Person hat alle Möglichkeiten zur Reduzierung ihrer Aufwendungen für besondere Bedarfe zu nutzen; so ist z. B. bei den Kosten zur Wahrnehmung des Umgangsrechts auf günstige Verkehrsmittel und Inanspruchnahme von Fahrpreisermäßigungen zu verweisen.

(5) Wird Erwerbseinkommen erzielt, so bleibt dieses auch bei der Berechnung von Leistungen für besondere laufende Bedarfe in Höhe des Erwerbstätigenfreibetrags nach § 11b Abs. 3 außer Betracht. Der Freibetrag bei Erwerbstätigkeit ist weiterhin von dem monatlichen Einkommen aus Erwerbstätigkeit abzusetzen. Die leistungsberechtigte Person ist wegen ihres Sonderbedarfs nicht auf die Verwendung des Erwerbstätigenfreibetrags zu verweisen.

Bagatellgrenze – Erste Feststellungen

Zuerst einmal erscheint uns verwunderlich, dass die BA in ihren Fachlichen Hinweisen zu § 21 SGB II Stand Dezember 2013 nur eine „reine“ Bagatellgrenze anführt, in der geänderten Version Stand Dezember 2014 erst einmal aber als Kapitelüberschrift von „keiner pauschalen Bagatellgrenze“ die Rede ist. Dazu kommt weiter unten die erneute Verwendung einer Relativierung, nämlich der Satz „Eine allgemeine Bagatellgrenze in Höhe von 10 % des Regelbedarfs ist im SGB II nicht festgelegt.„.

Bei solch einer „Formulierungswahl“ muss man zum Wortklauber werden. Denn würde die BA wirklich die Absicht haben, das BSG-Urteil zur Bagatellgrenze konsequent umzusetzen, würde sie keine Einschränkungen bei dieser vornehmen. Sondern klipp und klar formulieren: „Keine Bagatellgrenze“.

Den Adressaten (die Sachbearbeiter/innen in den JobCentern) dürfte dieser unverhohlene Aufruf zum Rechtsbruch durchaus offensichtlich sein. Denn wenn es keine „allgemeine Bagatellgrenze“ gibt, kann es durchaus aber immer noch eine „spezifische Bagatellgrenze“ geben. Das „zwischen den Zeilen Lesen“ lässt grüßen.

Bagatellgrenze – Absatz 3 zu 21.34

Dieser Absatz ist nachwievor höflich gesagt, eine einzige Frechheit.

Hierzu muss man nur die Randnummern 16 a, 22 und 34 des Urteils betrachten:

16 a) Der Kläger hatte bereits im Zeitpunkt der Entscheidung des Beklagten am 27.4.2010 für den hier streitbefangenen Leistungszeitraum einen Anspruch gegen das beklagte Jobcenter auf den geltend gemachten Mehrbedarf dem Grunde nach, nachdem das BVerfG es mit Urteil vom 9.2.2010 (1 BvL 1/09, 3/09 und 4/09 – BVerfGE 125, 175 = SozR 4-4200 § 20 Nr 12) als mit dem Grundgesetz unvereinbar angesehen hat, dass für einen atypischen Bedarf außerhalb der Regelleistung des § 20 SGB II und bestimmter zusätzlicher Hilfen das SGB II keinen Anspruch des Hilfebedürftigen auf einen besonderen, laufenden, nicht nur einmaligen und unabweisbaren Bedarf vorsieht, der zur Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums jedoch zwingend zu decken ist. Da Urteile des BVerfG gemäß § 31 Abs 2 Bundesverfassungsgerichtsgesetz (BVerfGG) i.V.m. § 13 Nr. 8a BVerfGG bindend sind und in Gesetzeskraft erwachsen (s dazu Pieroth in Jarass/Pieroth, GG, 12. Aufl 2012, Art. 93 Rd.Nr. 65), hatte der Kläger bereits am 27.4.2010 dem Grunde nach einen Anspruch auf Mehrbedarf gegen den Beklagten.

22) Bei den Fahrtkosten zur Ausübung des Umgangsrechts handelt es sich ungeachtet der Tatsache, dass im Regelbedarf ein Anteil für Fahrtkosten enthalten ist, um einen besonderen Bedarf, weil er nicht nur die üblichen Fahrten im Alltag betrifft, sondern eine spezielle Situation darstellt, weil die Aufrechterhaltung des Umgangs mit einem Kind mit überdurchschnittlichen Schwierigkeiten verbunden ist, wenn die Wohnorte aufgrund der Trennung der Eltern weiter entfernt voneinander liegen (BSG Urteil vom 7.11.2006 – B 7b AS 14/06 R – BSGE 97, 242 = SozR 4-4200 § 20 Nr 1, RdNr 22).

34) Anerkannt worden ist auch in der Rechtsprechung des BSG das gesetzgeberische Ziel, die Auszahlung von Bagatellbeträgen zu vermeiden (BSG Urteil vom 12.7.2012 – B 14 AS 35/12 R – BSGE 111, 234 = SozR 4-1500 §  4 Nr 28; Urteil vom 17.3.2009 – B 14 AS 63/07 R – SozR 4-4200 § 11 Nr 21 RdNr 35). Dabei ist Ausgangspunkt allerdings, dass auch geringfügige Eingriffe in die Rechtsposition eines Leistungsberechtigten nicht grundsätzlich allein mit dem gesetzgeberischen Ziel der Verwaltungsvereinfachung abgewiesen werden können. Es verbleibt danach aber selbst im Bereich existenzsichernder Leistungen ein „Bagatellbereich“ dort, wo der Gesetzgeber nicht aus Gründen der Existenzsicherung des Einzelnen, sondern zur Vereinfachung verwaltungsinterner Abläufe (und damit letztlich zur Beschleunigung der Auszahlung existenzsichernder Leistungen) bei der Berechnung der Leistung (in dem entsprechenden Fall ging es um die Regelungen zur „Rundung“) entsprechende Regelungen erlässt. Dieser Entscheidung kann als Grenze aber lediglich entnommen werden, dass jedenfalls Leistungen im Centbereich unter eine Bagatellgrenze fallen würden.

In diesen Randnummern hat das BSG hinreichend rechtlich begründet angeführt, dass Leistungsberechtigten dem Grunde nach prinzipiell ein Anspruch auf Mehrbedarf bei Ausübung eines Umgangsrechtes zusteht, sofern die Wohnorte der Elternteile weiter auseinanderliegen.

Insgesamt betrachtet ist es als vorsätzlicher Aufruf zum Rechtsbruch anzusehen, dass die BA in ihren Ausführungen zu einer vermeintlichen Bagatellgrenze bei einem Mehrbedarf zur Ausübung eines Umgangsrechtes generell nachwievor auf den § 20 Abs. 1 Satz 4 SGB II verweist. Würde sie das Urteil das BSG entsprechend ihrer Verpflichtung würdigen, hätte sie sich das im wahrsten Sinne des Wortes schwafelnde Blablabla klemmen können. Anstelle dessen wäre ein sachlicher Hinweis angebracht gewesen, der auf die im Urteil enthaltenen Begründungen abstellt. Hinzu kommt die Tatsache, dass unser Rechtsauffassung nach eine konsequente Ausübung eines Umgangsrechtes kein unregelmäßig anfallender Bedarf nach § 20 Abs. 1 Satz 4 SGB II ist, sondern schlichtweg ein Regelmäßiger. Der damit voll der Definition des § 21 Abs. 6 SGB II unterliegt.

Bagatellgrenze – Absatz 4 zu 21.34

Auch hier drängen sich uns paar Fragen auf, die zumindest die „Vorgaben“ der BA rechtlich zweifelhaft erscheinen lassen. Denn das Urteil verdeutlicht exemplarisch, dass das BSG es zumindest toleriert, dass ein Leistungsberechtigter weitere Strecken zur Ausübung des Umgangsrechtes mit einem eigenen PKW zurücklegt. Zwar steht laut dem letzten Beschluss des BVerfG vom 23. Juli 2014  [1 BvL 10/12, 1 BvL 12/12, 1 BvR  691/13 (Rn. 113 und 114)] einem Leistungsberechtigten nicht unbedingt ein eigener PKW zu, dass BVerfG schließt diesen aber grundsätzlich nicht aus. Die Formulierung, dass die wertende Einschätzung des Gesetzgeber einen PKW für nicht existenznotwendig zu betrachten, seitens des BVerfG nur als „vertretbar“ eingestuft wird, lässt diesen Schluss zu. Zum besseren Verständnis daher nun die beiden Randnummern des Beschlusses:

113

cc) Die Entscheidung des Gesetzgebers, Ausgaben für Kraftfahrzeuge, alkoholische Getränke und Tabakwaren, Schnittblumen und Zimmerpflanzen, Kantinenessen, chemische Reinigung, Vorstellungsgespräche sowie Prüfungsgebühren nicht als regelbedarfsrelevant anzuerkennen, begegnet keinen verfassungsrechtlich durchgreifenden Bedenken. Es handelt sich um wertende Entscheidungen im Rahmen des ihm zustehenden Ausgestaltungsspielraums. Die Begründungen, die sich dazu im Einzelnen im Gesetzentwurf der damaligen Regierungsfraktionen (BTDrucks 17/3404, S. 53 ff.) finden, sind nachvollziehbar und nicht unsachlich. Soweit erkennbar ist, dass aufgrund derartiger Entscheidungen eine Gefahr der Unterdeckung entsteht, muss der Gesetzgeber dies ausgleichen (unten f).

114

Insbesondere ist die wertende Entscheidung des Gesetzgebers, ein Kraftfahrzeug sei im Grundsicherungsrecht nicht als existenznotwendig zu berücksichtigen, vertretbar; allerdings sind die ohne Kraftfahrzeug zwangsläufig steigenden Aufwendungen der Hilfebedürftigen für den öffentlichen Personennahverkehr zu berücksichtigen (vgl. BVerfGE 125, 175 <240>). Mobilität ist nicht nur soziokulturell bedeutsam, um Teilhabe zu ermöglichen, sondern zum Beispiel in Lebenssituationen außerhalb der Kernortschaften mit entsprechender Infrastruktur auch mitunter erforderlich, um die Bedarfe des täglichen Lebens zu sichern. Künftig wird der Gesetzgeber auch mit Blick auf die Lebenshaltungskosten sicherstellen müssen, dass der existenznotwendige Mobilitätsbedarf tatsächlich gedeckt werden kann (unten f).

Hinzu kommt, dass das BSG bereits vor Längerem jedem Mitglied einer Bedarfsgemeinschaft einen PKW bis zu einem Wert von 7.500 € zugestanden hat. Darüber hinaus muss hier der eindeutige Hinweis des BSG in dem Urteil zur Bagatellgrenze auf das Bundesreisekostengesetz und die erwähnte Kilometerpauschale von 20 Cent berücksichtigt werden. Vor diesem Hintergrund ist es schlichtweg unverständlich, dass die BA nachwievor auf die primäre Nutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln verweist.

Bagatellgrenze – Absatz 5 zu 21.34

Die Verklausulierung in Absatz 5 zur „Bagatellgrenze“ enthält unserer Auffassung eine wirklich hinterhältige Gemeinheit. Wenn man den genauen Wortlaut der Formulierung des Absatzes interpretiert, kommt man zu dem Ergebnis, dass einem erwerbsfähigen Leistungsberechtigten der Grundabsetzungsbetrag (Grundfreibetrag, in der Literatur wird auch „Erwerbseinkommen-Grundabzugsbetrag“ favorisiert) nach § 11b Abs. 2 Satz 1 SGB II in Höhe von 100 € bei der Berechnung eines Mehrbedarfes vorenthalten werden soll.

Es ist schon verwunderlich, dass die BA in dem Absatz die Rechtsgrundlage für den sog. Erwerbstätigenfreibetrag anführt, nämlich § 11b Abs. 3 SGB II. Dessen erster Satz im Übrigen wie folgt lautet: „(3) Bei erwerbsfähigen Leistungsberechtigten, die erwerbstätig sind, ist von dem monatlichen Einkommen aus Erwerbstätigkeit ein weiterer Betrag abzusetzen.“. Würde die BA tatsächlich die Meinung vertreten, dass auch der Grundfreibetrag nach § 11b Abs. 2 Satz 1 SGB II in Höhe von 100 € bei der Ermittlung eines möglichen Mehrbedarfsanspruches anrechnungsfrei bleiben sollte, würde sie wohl explizit auf diesen mit korrekter Bezeichnung und Rechtsauslegung verweisen.

Alles deutet darauf hin, dass die BA die Ansicht vertritt, dass mit dem Grundfreibetrag in Höhe von 100 € mögliche Ansprüche auf einen Mehrbedarf zumindest bei erwerbstätigen Leistungsberechtigten mit diesem abgegolten sind. Das ist ein klarer, vorsätzlicher Verfassungsbruch. Dafür spricht auch der letzte Satz des Absatzes, der als Wink mit dem Zaunpfahl zu verstehen ist. Ansich ist dieser Satz vollkommen überflüssig, denn in den Vorherigen wurde alles „erschöpfend“ dargelegt. Er ergibt nur einen Sinn, wenn ihn wie folgt ergänzt: „Die leistungsberechtigte Person ist wegen ihres Sonderbedarfes nicht auf die Verwendung des Erwerbstätigenfreibetrages zu verweisen, …… sehr wohl aber auf den Grundfreibetrag.„.

„Man kann die Leute zur Vernunft bringen, indem man sie dazu verleitet, daß sie selbst denken.“
Voltaire (1694 – 1774)

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